Sally Perel ist gestern im Alter von 97 Jahren in Tel Aviv verstorben. Die Volkswagen AG trauert um einen wichtigen Zeitzeugen, der bis zu seinem Lebensende nicht müde wurde, vor falschen Idealen zu warnen. Sally Perel hat sich stets für Respekt und Toleranz, für ein Zusammenleben in Frieden und Achtung vor allen Mitmenschen stark gemacht. Bis ins sehr hohe Alter reiste er durch Deutschland, Europa und die Welt, um vor allem Jugendliche zu kritischem und eigenständigem Denken und zum Einsatz gegen Ausgrenzung und Gewalt aufzurufen.
News, Volkswagen
03.02.2023 - 17:45 Uhr
Foto: Volkswagen AG
1925 als Jude im niedersächsischen Peine geboren, überlebte Sally Perel die Jahre 1943 und 1945 unter einem angenommenen Namen In der Uniform der Hitlerjugend. Im Vorwerk der damaligen Volkswagenwerk GmbH in Braunschweig erhielt er als „Jupp“ eine Ausbildung zum Werkzeugmacher und eine Erziehung, die ihn zum überzeugten Nationalsozialisten machen sollte. Erst Jahrzehnte später sprach er über diese Zeit und erzählte Jugendlichen auf Vortragsreisen seine Geschichte.
Mit Sally Perels Tod verliert die Welt einen der letzten Zeitzeugen der Nazi-Gräueltaten und einen Überlebenden, der seine Erinnerungen in sehr reflektierter und persönlicher Weise mit anderen teilte. Seine eigene Erfahrung, das Leben in Todesgefahr und in verdeckter Identität, „in der Haut des Feindes“, wie Perel es nannte, war die Triebfeder für seinen starken Wunsch, insbesondere junge Menschen für den Wert der Demokratie und die unbedingte Achtung der Menschenrechte zu gewinnen. Sally Perel wandte sich stets vehement gegen Gewalt, Rassismus und Antisemitismus, etwa bei seiner mitreißenden Rede vor tausenden von Menschen am 30. November 2019 anlässlich einer Demonstration auf dem Schlossplatz in Braunschweig. Seine Botschaft: „Die Jugend von heute ist nicht verantwortlich für die Gräueltaten der Nazis, aber sie wird es sein, wenn es wieder zu solchen kommt.“
Dieser Verantwortung hat er selbst sich unermüdlich gestellt und benannte dabei stets sehr konkret, was er für eine Gefahr hielt: Hass, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt. Sally Perel eckte an, in Deutschland und in Israel. Seine Überlebensgeschichte war unbequem, nicht nur für ihn. Respekt und Toleranz, zwei Grundwerte, die er stets als konkrete Anleitung für sein Handeln verstand, und deren Beachtung er auch von anderen einforderte, waren die Leitlinien auf seinem Lebensweg. Bis ins hohe Alter ging er auf Reisen und suchte und fand den Kontakt zu jungen Menschen in Israel und in Deutschland, aber auch in zahlreichen anderen Ländern. Durch das Beispiel seiner eignen Lebensgeschichte wollte er die jungen Menschen widerstandsfähig machen, gegen die Verlockungen und Versprechen insbesondere rechter Ideologien. Er setzte seine Hoffnung darauf, dass aus aufgeklärten, informierten und kritischen jungen Menschen mündige Bürger werden, die Hass, Hetze und Ausgrenzung keinen Raum lassen würden.
„Volkswagen verliert mit Sally Perel einen Menschen, der die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Er hielt uns an, Verantwortung für ein friedliches Miteinander zu übernehmen und hoffte dabei stets auf das Gute im Menschen. Volkswagen ist ihm sehr dankbar und wird seinen Namen und seine Botschaft lebendig halten. Wir fühlen mit seiner Familie und werden Sally Perel vermissen!“, so Gunnar Kilian, Personalvorstand der Volkswagen AG.
Die Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrates Daniela Cavallo ergänzt: „Sally Perel wird uns fehlen. Nicht nur die dramatischen Umstände seines Überlebens haben ihn als einzigartigen Zeitzeugen so wertvoll gemacht. Sondern vor allem die Gabe, seine Lebens- und Leidensgeschichte regelmäßig zu teilen und dabei mit Leichtigkeit eine Brücke zu seinem Publikum zu schlagen – insbesondere zu den jungen Menschen, darunter oft unsere Auszubildenden. Vor dieser Lebensleistung verneigen wir uns mit dem allergrößten Respekt. Und wir als Volkswagen-Familie sehen es als unsere Verpflichtung an, Sally Perels Vermächtnis rund um demokratische Wachsamkeit und Toleranz fortzuführen.“
Der ausführliche Lebenslauf des Sally Perel
„Du sollst leben – und vergiss nie, wer Du bist!“
Sally Perel wurde am 21. April 1925 in Peine als jüngstes von vier Kindern in eine 1918 aus Polen zugewanderte jüdische Familie geboren. Seine Eltern zogen vor antisemitischen Anfeindungen 1935 ins polnische Lodz, wo Verwandte lebten. Nach dem Überfall auf Polen musste auch die jüdische Familie Perel ins Ghetto ziehen. Die Eltern schickten ihren Jüngsten mit seinem ältesten Bruder Isaak auf die Flucht Richtung Osten in die Sowjetunion. Beim Abschied gab Sallys Mutter ihm den Auftrag „Du sollst leben!“ mit auf den Weg, während der Vater mahnte: „Vergiss nie, wer Du bist!“Beide Sätze brannten sich dem Jugendlichen tief ein. Unterwegs wurden die Brüder bei der Überquerung des Grenzflusses Bug getrennt und Sally wurde in ein Waisenhaus in Grodno gebracht. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 löste eine chaotische Flucht der vorwiegend jüdischen Waisenkinder aus. Sally wurde von Wehrmachtssoldaten gestellt und erklärte bei seiner Befragung, er sei Volksdeutscher, gab sich den Namen Josef Perjell und erfand einen Lebenslauf.
Die Soldaten glaubten dem sympathischen Jugendlichen, der sehr gut Deutsch, Polnisch und Russisch sprach, und setzten ihn als Dolmetscher auf ihrem Marsch Richtung Moskau ein. Im Sommer 1943 kam Sally Perel als JosefPerjell, genannt Jupp, ins Vorwerk der damaligen Volkswagenwerk GmbH nach Braunschweig, wo er eine Lehre zum Werkzeugmacher begann. Das Vorwerk sollte die Facharbeitskräfte für die neue Fabrik am Mittellandkanal ausbilden. Die jugendlichen Lehrlinge kamen aus ganz Deutschland und erhielten neben der fachlichen Ausbildung in ihrem Beruf eineideologische Schulung, die sie zu überzeugten Nationalsozialisten machen sollte. Sie lebten in einem von der Hitler-Jugend organisierten Gemeinschaftsheim auf dem Werksgelände und sollten in einem nationalsozialistischen Nachkriegsdeutschland im Sinne der NS-Machthaber als Elite nicht nur im Volkswagenwerk, sondern auch in der an seinem Standort geplanten nationalsozialistischen Musterstadt im täglichen Leben Vorbild für andere sein. Die ideologische Schulung schloss Rassenkunde ein, was für den in verdeckter Identität und in großer innerer Zerrissenheit lebenden Sally alias Jupp kaum zu ertragen war. Als Jupp ließ er sich tagsüber von den NS-Parolen begeistern. Nachts suchten Sally Ängste und Zweifel heim. Auch die Frage nach dem Schicksal seiner Familie verursachte eine permanente starke Anspannung.
Die Befreiung durch die Amerikaner erlebte Jupp alias Sally beim Volkssturm. Es brauchte einige Zeit, bis er wieder in seiner jüdischen Identität ankommen konnte, allerdings blieb Jupp bis zum Ende seines Lebens ein Teil von ihm. „Ich verdankte ihm mein Leben“, sagte Sally Perel. Die Verführbarkeit des Jupp zeigte ihm, wieleicht manipulierbar Menschen sind. Durch seine Zeit als Jupp konnte Sally Perel später verstehen, warum so viele Jugendliche den Nazi-Parolen verfallen waren. „Es war doch toll, auf der Seite der Starken zu stehen“, sagte er einmal. Gleichzeitig brachte ihn die Zeit der doppelten Identität „an die Grenze des Selbsthasses“.
Auf der Suche nach seiner Familie, machte Sally Perel sich im späten Frühjahr 1945 auf den Weg nach Lodz, kam aber nur bis Oebisfelde. Dort wurde er von der russischen Kommandantur als Dolmetscher eingesetzt und verbrachte einige Monate bis in den Sommer 1947 in der kleinen Grenzstadt am Übergang von der britischen zur sowjetischen Zone. Sallys Brüder Isaak und David hatten den Holocaust überlebt und die Brüder traten über gemeinsame Bekannte in Kontakt zueinander. Seine Eltern und die Schwester Bertha waren ermordet worden. Da seine Brüder beschlossen, nach Palästina zu gehen, entschiedauch Sally sich dafür. Kaum in Israel angekommen, fand er sich im Krieg wieder, der unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel begonnen hatte. Nach einem kurzen militärischen Training nahm Sally 1948 am Kampf um Jerusalem teil.
Nach der Ableistung seiner Militärzeit fand er Arbeit und heiratete Dvora, mit der er zwei Söhne und später drei Enkelkinder bekam. Seine Überlebensgeschichte in der Uniform eines Hitlerjungen behielt er auf Anraten seiner Brüder für sich, er gab stets an, mit falschen Papieren überlebt zu haben. Auch der eigenen Familie erzählte er seine Geschichte erst Mitte der 1980er Jahre, als eine lebensbedrohende Operation anstand. In einem Buch wurde die ungewöhnliche Geschichte bald darauf publiziert, und der Film „Europa, Europa“ von Agnieszka Holland, der unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“in die deutschen Kinos kam, machte ihn und seine Geschichte 1990 weltweit bekannt. Seit Erscheinen des Buches in Deutschland reiste Sally Perel mehrmals im Jahr nach Deutschland, aber auch in andere Länder, um seine Überlebensgeschichte zu erzählen und suchte insbesondere den Kontakt zu Jugendlichen, die er zu kritischem Denken motivieren wollte.
Für sein Engagement wurde Sally Perel international geehrt. In Deutschland erhielt er 1999 das Bundesverdienstkreuz und im Jahr 2000 den Ehrenring seiner Geburtsstadt Peine. Das Volkswagen Werk Braunschweig vergibt seit 2013 den Sally-Perel-Preis für Respekt und Toleranz. 2016 machte die Stadt Oberhausen Sally Perel zum Träger ihres Ehrenrings. Seit 2020 war Sally Perel Ehrenbürger der Stadt Braunschweig. In Braunschweig wurde 2018 die erste von mittlerweile drei Schulen in Niedersachsen nach ihm benannt, darunter seit 2022 auch die Grundschule, die er selbst in Peine besucht hatte. Die Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem hat noch im vergangenen Jahr mit Sally Perel gemeinsam eine Unterrichtseinheit erarbeitet, so dass jeder Jugendliche in Israel in Zukunft Sally Perel und seiner Geschichte begegnen wird.
Sally Perel wird fehlen, sein Lebenswerk bleibt bestehen und mit ihm die Aufgabe und Aufforderung, daran weiter zu arbeiten. Seine Botschaft bleibt Mahnung und Ansporn: Respekt, Toleranz und ein friedliches Miteinander sind die Grundpfeiler für unser Zusammenleben – zu Hause und in der Welt.
Quelle: https://www.volkswagen-newsroom.com/de/pressemitteilungen/volkswagen-trauert-um-sally-perel-15430
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